„Wie lange seid ihr gereist …?“

Eine Lehrstunde in Sachen Toleranz lässt viele Trossinger Schüler und Lehrer angefasst zurück.

 

 

Sie waren aus Senftenberg angereist. Zehn Schüler des Friedrich-Engels-Gymnasiums, die im Mai ein viel beachtetes Buch veröffentlicht hatten. #FürDemokratieGegenExtremismus der Titel. Jetzt saßen sie auf der Bühne des Konzerthauses vor 600 Schülern aus Gymnasium, Real- und Löhrschule. Begrüßt wurden sie vom miteinladenden Gerhard Brummer gleich mit einer Problemanzeige: selbst hochrangige Vertreter der Regierung würden die Demokratie in unserem Land eher schwächen als stärken. Anlass, für Demokratie etwas zu tun!

Und das taten die Zehn dann auch, indem sie kurze Passagen ihrer Texte aus dem Buch vortrugen.

Da war von der allgemeinen Unzufriedenheit die Rede, die Bürger mit etablierten Parteien empfinden. Erfahrungen, dass Jugendliche in der brandenburgischen Kleinstadt mehr und mehr in rechte Kreise geraten, weil sie keine Perspektiven für sich entdecken. Von der Gefahr, sich durch Social Media seine eigene Meinung immer nur in derselben Bubble bestätigen zu lassen. Von Erfahrungen mächtig werdender Intoleranz wurde berichtet, die keine andere Einstellung mehr duldet und Minderheiten etnischer, religiöser, politischer oder sexueller Art stigmatisiert und ausgrenzt. Von der historischen Ideologie einer eingepaukten und unkritisch angenommenen Rassenlehre. Von der wachsenden Sehnsucht nach (scheinbar) einfachen Lösungen. Zwei Texte berichteten von den Kriegserfahrungen der Ururgroßeltern, Internierung in Arbeitslager wegen unbotmäßiger kommunistischer Gesinnung, von Flucht und Vertreibung, von einer Existenz in einem wiederum autoritären DDR-Staat, in dem wieder nur eine Meinung zählte.

Eindringlich war der Appell der zehn jungen Leute für echtes Zuhören, größere Toleranz und die ernsthafte Suche nach einem Ausgleich und einem demokratisch ausgehandelten Miteinander.

Vielleicht lag es an der immer wieder klar artikulierten Kritik an der AFD und ihrer Vorsitzenden, dass die Reaktionen aus dem Publikum verhalten – mitunter sogar distanziert ausfielen. Was denn gegen ein traditionelles Familienbild sprechen würde, wurde in der Fragerunde gefragt. Warum die Jugendlichen vor allem den Extremismus der als (in Teilen) rechtsextrem eingestuften AFD anprangerten, nicht aber extreme Ansichten der Linken. Ob sie das Verfassen von Büchern als geeignetes Mittel ansehen, in der jetzigen Situation etwas zu tun. Ein Schüler wollte eine Definition für „Toleranz“ haben, um diese dann auch für die immerhin demokratisch gewählte AFD einzufordern. Eine Schülerin meinte schließlich, sich für die Fragen der Mitschüler entschuldigen zu müssen.

Wer von der Veranstaltung stehende Ovationen für das Engagement der Senftenberger Gymnasiasten erwartete, wurde enttäuscht. Und doch war die kritisch nachdenkliche Stimmung, in der die 600 Schüler das Konzerthaus verließen, der Ernsthaftigkeit des Themas sehr viel angemessener. Hier sprachen Jugendliche zu Jugendlichen, ohne das Gefühl zu haben, sich verstecken zu müssen. Hier kam das breite Spektrum unterschiedlicher Überzeugungen zum Vorschein, in dem Jugendliche (auch und gerade in Trossingen) heute unterwegs sind. Hier wurde deutlich, wie anstrengend das Ringen um das bessere Argument ist. Hier zeigte sich, dass ein kurzschlüssiges Rechthabenwollen zu gar nichts führt, dass aber auch eine nur oberflächliche Toleranzeinstellung, die jeden mit seiner Meinung in Ruhe lässt, noch lange nicht zu  einer realistischen Lösung der akuten Probleme führt.

Die wahrscheinlich ziemlich banal gemeinte Frage, wie lange die Reise nach Trossingen dauerte, bekam so beinahe symbolischen Charakter: es mag von Einstellung zu Einstellung ein weiter Weg sein, weil wir alle Menschen sind aber einer, der sich zu gehen lohnt.

Eis 10/2025